Die schwierige Finanzpolitik des Gesundheitsministers Von Ruppert Mayr, dpa

Zwischen den Krankenkassen tobt ein Verteilungskampf, es geht um
Milliarden. Gesundheitsminister Gröhe wollte sie im Wahljahr 2017 mit
einer ordentlichen Geldspritze aus der Reserve des Gesundheitsfonds
ruhigstellen. Doch das funktioniert wohl nicht richtig.

Berlin (dpa) - Wenn die Versicherten genau wüssten, was mit ihren
Beiträgen geschieht, «würden sie auf die Barrikaden gehen». Denn de
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Finanzausgleich unter den 117 gesetzlichen Krankenkassen sorge für
Wettbewerbsverzerrungen - zu Lasten vieler Versicherter. Der Vorwurf
der Chefin des bayerischen Landesverbands der Betriebskrankenkassen,
Sigrid König, zeigt: Unter den Krankenkassen mit ihren insgesamt 70
Millionen Versicherten tobt ein heftiger Verteilungskampf. Die
meisten Kassen wollen eine Reform des so genannten
morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) - und
zwar sofort, nicht erst in der nächsten Legislaturperiode.

Was steckt hinter dem Morbi-RSA?

Krankenkassen haben Versicherte mit unterschiedlich schweren
gesundheitlichen Problemen. Manche haben viele junge, gesunde und gut
verdienende Menschen, andere viele alte, die öfter krank sind und
eine kostenintensive Versorgung brauchen. Die Kassen tragen also ein
unterschiedliches Kostenrisiko.

Es gab immer wieder Versuche, dieses Risiko auszugleichen. 1994 wurde
dann ein Risikostrukturausgleich (RSA) eingeführt. Damals richtete
sich der Ausgleich vor allem nach Alter und Geschlecht der
Versicherten und danach, ob sie eine Erwerbsminderungsrente beziehen.

2009 wurde - parallel zum Gesundheitsfonds - der aus dem RSA
weiterentwickelte Morbi-RSA eingeführt. Der Morbi-RSA orientiert sich
zusätzlich am Krankheitszustand, der Morbidität der Versicherten
einer Krankenkasse. Dafür wurden beispielhaft 80 Krankheiten
ausgesucht.

Wie viele Milliarden werden nach dem Morbi-RSA verteilt?

Nach RSA-Regeln werden in diesem Jahr schätzungsweise 220,2
Milliarden Euro zwischen den Kassen verteilt. 206,2 Milliarden aus
dem allgemeinen Beitragssatz von 14,6 Prozent und dem Bundeszuschuss
(14 Milliarden), weitere 14 Milliarden kommen aus Zusatzbeiträgen. Es
geht also um sehr viel Geld aus dem Gesundheitsfonds. Bei einer
Fehlberechnung von nur einem Prozent würden gut zwei Milliarden Euro
falsch verteilt. Grund genug für heftigen Streit unter den Kassen.

Was genau wird am Morbi-RSA kritisiert, was soll geändert werden?

Einige Ersatz-, Betriebs- und Innungskrankenkassen schlossen sich zu
einer RSA-Allianz zusammen. Sie sehen insbesondere die AOKen durch
das jetzige System bevorteilt.

- Verlangt wird die Einführung eines «Regionalfaktors», der die
Kostenunterschiede zwischen (teuren) Ballungsräumen und (günstigerem)
Land bei der Verteilung berücksichtigt.

- Um beim Krankengeld zielgenauer auszugleichen, müssten Faktoren wie
die Region, das Einkommen oder die Branche des Versicherten
entsprechend präziser gefasst werden.

- Das Verteilkriterium Erwerbsminderungsrente solle gestrichen
werden. Denn danach bekommen Kassen für Versicherte mit
Erwerbsminderungsrente zum Teil mehrere tausend Euro mehr zugewiesen
als für Versicherte mit gleicher Erkrankung, aber ohne
Erwerbsminderungsrente. Bevorzugt seien hier AOKen und die
Knappschaft, da sie viele Erwerbsminderungsrentner hätten.

- Die jetzige Regelung mit 80 beispielhaften Erkrankungen, an denen
sich der Morbi-RSA orientiert, führe dazu, dass kostenintensive
Krankheiten wie Schlaganfall oder Brustkrebs nicht ausreichend
ausgeglichen würden. Ebenso würden seltene Erkrankungen, die in
Forschung wie Therapie sehr teuer sind, nicht angemessen erfasst.

- Die Ersatzkassen fordern einen Hochrisikopool, um die extrem teuren
Krankheiten auszugleichen. Einen solchen Pool gab es bereits von 2002
bis 2008.

Was sagen die kritisierten AOKen?

Der AOK-Bundesverband will vor dem Hintergrund dieser Diskussion den
Morbi-RSA insgesamt auf den Prüfstand stellen. Dies würde allerdings
etliche Zeit kosten und könnte schon jetzt existenziell gefährdete
Kassen weiter schädigen.

Was sagen Gesundheitsministerium und Bundesversicherungsanstalt?

Sie sehen keinen akuten Handlungsbedarf. Das zuständige
Bundesversicherungsamt unterstellt den Kassen indirekt, dass viele
der wirtschaftlichen Probleme hausgemacht seien.

Hilft die 1,5 Milliarden-Spritze aus der Reserve des
Gesundheitsfonds?

Ja, sagen selbst angeschlagene Kassen, aber nur vorübergehend. Denn
sie wissen auch, der Einmaleffekt der 1,5 Milliarden Euro ist nach
dem Wahljahr 2017 aufgebraucht. Deshalb wollen sie jetzt eine
nachhaltige Reform des Verteilsystems. Es könnte noch ungemütlich
werden für Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU).