(Berichtigung: Zahl im vierten Absatz) (KORR-Bericht - Zum 24. April) Folgenreicher Gendefekt WBS: oft unentdeckt - und jetzt im Kino Von Yuriko Wahl-Immel, dpa (Foto - aktuell)

Das Williams-Beuren-Syndrom (WBS) ist selten und bleibt oft
unentdeckt. Behinderungen in unterschiedlicher Ausprägung und Schwere
sind die Folge. In Deutschland kommt nun ein hochgelobter Film in die
Kinos - die charmante Hauptdarstellerin hat WBS.

Herne (dpa) - Jörg Wein spielt gerne Playstation, sammelt
Schlüsselanhänger, wirkt fröhlich, zufrieden und gut umsorgt. In
seiner Entwicklung ist er deutlich zurück - mit seinen 43 Jahren.
Jörg hat einen seltenen und folgenreichen Gendefekt: das
Williams-Beuren-Syndrom. Es ist nur wenigen bekannt und bleibt oft
unentdeckt. In einem der beiden Chromosomen 7 fehlen mehrere Gene,
was zu unterschiedlichen geistigen und körperlichen Behinderungen
führt. Auch Gabrielle Marion-Rivard hat WBS. Ab Donnerstag (24.4.)
ist sie in dem Film «Gabrielle - (k)eine normale Liebe» als
Hauptdarstellerin zu sehen - eine Lovestory zweier behinderter
Menschen, schon im Vorfeld hochgelobt und ausgezeichnet.

«Der Film ist ganz wichtig für uns», sagt Jörgs Vater Bernd Wein, d
er
auch Vorsitzender des WBS-Landesverbands NRW mit rund 140 Betroffenen
ist. «Um die Problematik in die Öffentlichkeit zu bringen. Um zu
informieren, was das WBS ist und aufmerksam zu machen, dass der ein
oder andere es vielleicht selbst unwissentlich hat.» Denn: «Wenn man
sich auskennt, kann auch die Förderung früh einsetzen, was
empfehlenswert ist. Gerade gab es einen Fall, bei dem WBS bei einem
Jungen erst mit 21 Jahren festgestellt wurde.»

Bei Jörg liegt die Diagnose bereits 40 Jahre zurück. Als knapp
Dreijähriger fiel er bei der Kinderärztin in Herne wegen allgemein
verzögerter Entwicklung auf. «In der Klinik kam dann die Keule: "Ihr
Sohn ist geistig und körperlich behindert"», erzählt Bernd Wein.
«Sechseinhalb Wochen hat es gedauert, bis dann die Diagnose
WBS abgeklärt war. Heute geht das alles viel schneller.» In mehreren
Krankenhäusern wurden Leber, Herz und Kopf untersucht. Im
Erwachsenenalter kam eine schmerzhafte Darmentzündung dazu, die
häufig ist bei WBS. Bei Jörg wurde sie erst nach leidvollen
Fehldiagnosen entdeckt.

Wie viele Menschen in Deutschland mit WBS leben, weiß niemand genau.
Dem BWS-Bundesverband gehören rund 700 Mitglieder an. «Es gibt sehr
viele unerkannte Fälle», sagt Professor Rainer Pankau, Kinder- und
Jugendarzt am Heidekreis-Klinikum Soltau/Walsrode. Für realistisch
hält er die Schätzzahl von 1 zu 8000 Geburten. Bei 674 000
Neugeborenen wären das jedes Jahr rund 84 neue Fälle. «Das ist aber
nur ein Erwartungswert, diagnostiziert wird etwa die Hälfte.» Viele
Erwachsene wüssten nicht vom eigenen Krankheitsbild. Dank
internationaler wissenschaftlicher Arbeiten werde das Syndrom aber
allmählich bekannter.

Bei den Kinderkardiologen klingeln die Alarmglocken inzwischen
schnell, wenn Säuglinge oder Kleinkinder mit WBS-typischen Symptomen
kommen, weiß Pankau: Herzfehler, Verengung an der Hauptschlagader,
Bauchschmerzen, wiederholtes Erbrechen, Trink- und Essprobleme,
Entwicklungsverzögerungen etwa beim Laufen, Sitzen, Spracherwerb.
Auch im Gesicht zeigen sich Auffälligkeiten - etwa ein recht kleiner
Kopf, breite Stirn, kugelige Nase, schmales Kinn und volle
Schmolllippen. Das geschulte Auge könne WBS früh mittels
Blickdiagnose ausmachen, sagt der Mediziner. Ein Bluttest bringe
zügig Klärung.

Benannt ist das Syndrom nach seinen Entdeckern aus den 1960er Jahren,
den Kardiologen J.C.P. Williams und Alois J. Beuren. Viele Patienten
entwickeln ab dem Jugendalter eine Wirbelsäulenverkrümmung. «Fast
regelhaft bei Kindern mit Williams-Beuren-Syndrom ist eine
ausgeprägte Geräuschempfindlichkeit. Kleinkinder mögen den
Staubsauger, den Mixer oder die Silvesterknaller nicht», erklärt
Pankau. Hörstörungen entwickeln sich manchmal, Schielen ist häufig.
Ein selbstständiges Leben ist in aller Regel nicht möglich.

Jörg arbeitet heute in einer Behindertenwerkstatt - Einlagen aus
Plastik sind auszustanzen. «Blister ausdrücken, ich habe jetzt eine
Aufgabe», erzählt er. Sein Vater bringt ihn und mehrere behinderte
Kollegen mit dem Bus zur Werkstatt. Auch seine Mutter Ellen begleitet
die Fahrten morgens und nachmittags, unterstützt Jörg im Alltag. «Er

braucht immer etwas Hilfe». Lesen und Schreiben funktioniert mit
Druckbuchstaben einigermaßen. «Ich hab' Mama und Papa gerne», sagt
Jörg mit einem Lächeln.

Noch eine Besonderheit: Wer WBS hat, sei meist auffallend offen,
positiv, zutraulich und herzensgut, erzählt Bernd Wein auch aus
langjähriger Verbandserfahrung. Pankau ergänzt: «Viele haben ein ganz

phänomenales Personen- und Ortsgedächtnis und sind ausgeprägt
musikalisch.» Auch Jörg braucht eine Melodie im Radio nur wenige Male
hören - und schon spielt er sie nach Gehör am Keyboard nach. Für
Wissenschaftler Pankau steht jedenfalls - bei allen noch ungeklärten
Faktoren - nach 25 Jahren mit jungen WBS-Patienten fest: «Kinder mit
dem Williams-Beuren-Syndrom sind ganz wunderbare Menschen.»