Gewinnmaschine Operationssaal - Ärzte warnen vor sich selbst Von Basil Wegener, dpa

Soll man mit Rückenschmerzen zur Krankengymnastik oder zum Chirurgen?
Immer mehr Patienten werden operiert - auch bei anderen Krankheiten
wohl ohne Not. Nun mahnen selbst Mediziner zu mehr Zurückhaltung.

Berlin (dpa) - Neuerdings warnen Deutschlands Ärzte vor sich
selbst. Erst schlugen die obersten Chirurgen des Landes Alarm: Es
gebe zu viele Kliniken, zu viele Operationssäle, zu viel Angebot, so
die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie am Mittwoch. Jetzt geht die
Deutsche Gesellschaft für Orthopädie in die Offensive: Seit 2005 gibt
es zum Beispiel mehr als doppelt soviel Wirbelsäulen-OPs. Mit der
viel billigeren Physiotherapie könnte man vielen Patienten mit
Rückenschmerzen eine Operation ersparen. Was läuft schief in den
deutschen Krankenhäusern?

Der neue AOK-Krankenhausreport zeigt: Egal ob bei Operationen an
Gelenken, Knochen und Skelett, ob bei Herz-OPs, ob bei Therapien der
Harn-, der Atem- oder Verdauungsorgane - überall zeigen die
Behandlungszahlen deutlich nach oben. So ergibt sich ein neuer Rekord
von 18,3 Millionen Klinikbehandlungen. Häuser mit etwas über 100
Betten sind ebenso mit kräftigen Zuwächsen dabei wie die Giganten auf
dem Markt.

Beispiel Wiedereinrichtung verschobener Wirbel: Allein bei diesem
Rückeneingriff gab es einen Anstieg von 22 000 im Jahr 2005 auf 64
000 fünf Jahre später. 12 000 Euro kostet eine Operation. 30 Euro pro
Quartal kostet die konservative Therapie. Praxisärzte können in der
Regel aber nur Rezepte für sechs Physiotherapiestunden abrechnen -
und Kliniken haben ein großes Interesse an vielen lukrativen OPs.

«Man kann Bandscheibenvorfälle sehr gut konservativ behandeln»,
sagt der Generalsekretär der Orthopäden-Gesellschaft Fritz Uwe
Niethard. Doch wenn ein Patient Schmerzen hat und ein Arzt schnelle
Abhilfe durch per OP verspricht, stimmen viele gerne zu.

Die Krankenhausbetreiber parieren die Vorwürfe: Das Gros des
Anstiegs sei erklärbar durch zwei Faktoren, für die die Kliniken
nichts könnten. Die Menschen würden älter - und die medizinischen
Möglichkeiten besser.

Doch viele neue Techniken kommen wohl vorschnell zum Einsatz.
Niethard sagt: «Uns besorgt, dass bestimmte Operationsverfahren
aufblühen und in der Versenkung verschwinden ohne nachhaltige
Begründung. Daran kann man erkennen, dass es ökonomische Fehlanreize
gibt.» Maximal ein Drittel der hunderttausenden zusätzlichen
Behandlungen pro Jahr seien durch das Älterwerden der Menschen zu
erklären, meint der Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts

der AOK, Jürgen Klauber.

Nicht nur die Art der Krankheit entscheidet darüber, ob man eher
operiert wird oder nicht - sondern auch der Wohnort. So gibt es in
Bayern rund 500 Wirbelsäulen-OPs pro 100 000 Einwohner, in Sachsen
sind es nur rund 300. In manchen Kreisen werden Herzpatienten so
schnell kleine Defibrillatoren, also Stromstoßgeber, eingesetzt, dass
es zu 1000 solcher Eingriffe pro eine Million Eingriffen kommt. In
anderen sind es unter 100.

Niethard staunte, als seine Gesellschaft ermittelte: In einer
baden-württembergischen Region greifen die Ärzte selten zum Messer,
wenige Kilometer entfernt in Bayern tun sie es besonders oft. Eine
Erklärung: Hier haben niedergelassene Ärzte viele Belegbetten in
Krankenhäusern, die sie auch gern auslasten.

Und dann gibt es in jedem zweiten Vertrag von Klinik-Chefärzten
umstrittene Klauseln: Bei vielen Behandlungen fließen Bonuszahlungen.
Die Ärzteschaft wendet sich schon länger dagegen, dass ein Teil des
Honorars der Mediziner so zustande kommt - bisher ohne Erfolg.

Als Patient muss man also gut aufpassen, sich um zweite Meinungen
bemühen, Klinik-Qualitätsurteile im Internet suchen. Doch was lässt
sich politisch tun? AOK-Vorstand Uwe Deh sieht die Länder gefordert.
Sie sind dafür zuständig, wo welche Kliniken stehen. «In die
Krankenhauspläne wird das aufgenommen, was da ist», bemängelt Deh.
Reformen? Fehlanzeige. Dabei sollten sich Kliniken auf dem Land aus
Kassensicht auf die Grundversorgung beschränken - in den Städten
sollte es weniger Gedrängel von Kliniken mit vollem Programm geben.

Die Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung wirft den
Kassen Scheinheiligkeit vor. «Operationen, die keine medizinische
Notwendigkeit haben, erfüllen der Tatbestand der Körperverletzung»,
sagt ihr Chef Eugen Brysch. «Aber was tun Kassen, wenn sie von
solchen Fällen erfahren? Nichts.»