Am Limit - Ein Leben zwischen Pflege und Job Von Stefanie Koller, dpa (Bild geplant)

Bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht es in der alternden
Gesellschaft längst nicht mehr nur um Kinderbetreuung. Immer mehr
Menschen pflegen auch kranke Angehörige. In ihrem Leben ist häufig
nichts mehr, wie es einmal war.

Stuttgart/Nürnberg (dpa) - Es sind zwei Worte, die das Leben von
Rudolf Mehringer und seiner Familie für immer verändert haben:
Multiple Sklerose. 14 Jahre ist es nun her, seit die Ärzte die
Krankheit bei Mehringers Frau diagnostizierten. Die gefühlte Last,
die auf den Schultern des 44-Jährigen liegt, wächst seitdem stetig.
Er pflegt seine Frau, zieht die gemeinsame Tochter groß und verdient
den Lebensunterhalt.

«Die Organisation meines Alltags ist ziemlich stramm geworden. Es
muss alles minuziös durchgeplant sein», sagt der gelernte Kfz-
Mechaniker. «Das geht schon oft an die Substanz.» Doch Hilfe annehmen
- damit tut er sich schwer. Er will keine Extrawürste - vor allem
nicht an seinem Arbeitsplatz beim Technologieunternehmen Bosch in
Nürnberg. «Ich möchte ein vollwertiger und flexibler Mitarbeiter
bleiben», sagt Mehringer.

Das hat auch damit zu tun, dass die Arbeit das ist, was ihn in
schweren Momenten aufrecht hält. Ein Rettungsanker. «Ich brauche
meinen geregelten Alltag. Ich brauche die Arbeit, um auf andere
Gedanken zu kommen und ganz andere Sachen als daheim zu machen.»

Daheim, da macht der 44-Jährige fast alles. Wenn er Frühschicht
hat, steht er um vier Uhr morgens auf. Er versorgt seine Frau, die
fast vollständig gelähmt ist. Nur den linken Arm kann sie noch
bewegen. Er macht Gymnastik mit ihr, setzt sie in den Rollstuhl. Dann
bereitet er Frühstück für die Familie vor, macht die Tochter fertig
für die Schule und geht selbst zur Arbeit. «Die ganze Hausarbeit wie
zum Beispiel Waschen kommt noch dazu», sagt Mehringer. «Normalerweise
ist das ein Vollzeitjob.»

Hilfe bekommt er von einem Pflegedienst, der vom Staat bezahlt
wird. Als dieser im Februar plötzlich die jahrelange Zusammenarbeit
aufkündigte, nahm Mehringer zehn Tage Pflegezeit, um einen neuen
Dienst zu suchen. «Es ist ein gutes Gefühl, wenn man Unterstützung
bekommt. Zu wissen, dass wenn etwas passiert, man wirklich weg kann.»

Bisher haben Arbeitnehmer nach dem Pflegezeitgesetz die
Möglichkeit, für die häusliche Pflege eine Berufspause von einem
halben Jahr einzulegen - allerdings unbezahlt. Die Bosch-
Beschäftigten können derzeit bis zu drei Jahre Pflegezeit nehmen.
«Die ersten Mitarbeiter nehmen dieses Angebot auch an», sagt die
Leiterin der Betrieblichen Sozialberatung, Michaela Noé-Bertram.
Zahlen nannte das Stuttgarter Unternehmen nicht. Das Interesse am
Thema Pflegepause insgesamt steige aber. Hürde sei aber oft, dass die
Mitarbeiter sich eine lange Auszeit nicht leisten könnten. «Eine
finanzielle Absicherung wäre eine große Erleichterung.»

Auch für Rudolf Mehringer kommt eine lange Jobpause aus
finanziellen Gründen bisher nicht infrage. Die neuen Vorschläge zur
Familienpflegezeit von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder
(CDU) sieht er kritisch. «Es müsste finanziell nachgelegt werden.»
Eine Alternative wäre seiner Meinung nach eher eine Lösung nach dem
Vorbild des Elterngeldes.

Schröder hatte zuletzt gesagt, dafür sehe sie derzeit finanziell
keinen Spielraum. Das Modell der Ministerin sieht vor, dass
Arbeitnehmer ihre Angehörigen bei halber Arbeitszeit pflegen können
und dabei drei Viertel ihres Gehalts beziehen. Später sollen die
Arbeitnehmer dann wieder voll arbeiten, bekämen aber für einen ebenso
langen Zeitraum weiterhin nur drei Viertel des Gehalts. Aus der
Opposition, der Wirtschaft und von Sozialverbänden gab es Kritik.

Schröder will ihr Modell noch in diesem Jahr umsetzen. Zwar bieten
nach Angaben ihres Ministeriums neben Bosch auch andere Unternehmen
in Deutschland bereits eigene Regelungen für pflegende Angehörige an.
«Es ist aber ein ganz großer Bedarf da», sagte eine Sprecherin.

Derzeit sind in Deutschland rund 2,25 Millionen Menschen auf
Pflege angewiesen. Mehr als zwei Drittel von ihnen werden zu Hause
versorgt. Dass sich künftig die Pflege besser mit dem Beruf
vereinbaren lassen muss, zeigt ein Blick in die Zukunft. Statistiker
und Experten rechnen damit, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in
den kommenden Jahrzehnten deutlich nach oben schnellen wird.

Eine vom Ministerium in Auftrag gegebene und vor wenigen Tagen
veröffentlichte Allensbach-Studie ergab, dass etwa neun von zehn
Menschen in Deutschland die Vereinbarkeit von Pflege und Familie als
wichtige beziehungsweise sehr wichtige Aufgabe für die Zukunft sehen.
Drei von vier Befragten bewerteten die derzeitigen Möglichkeiten als
schlecht.

Dabei ist für Menschen wie Rudolf Mehringer Unterstützung
besonders wichtig. Viele Freunde schauen heutzutage seltener bei der
Familie vorbei. «In einer solch schwierigen Phase trennt sich die
Spreu vom Weizen», sagt er. Immer wieder stößt der 44-Jährige auch
an
die Grenzen seiner Belastbarkeit. «Aber immer nur kurz. Letztlich
gewinnt mein Wille und meine Lebensfreude.»

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